Magazin

Kolumne

„Das kann man doch nicht essen!“

Illustration von Nadine Redlich
Nadine Redlich

Unsere Kolumnistin Judith Merchant verwurstet Leben und Werk.

– von Judith Merchant

Bildrechte: Nadine Redlich

Hier schreiben im Wechsel Autor*innen aus dem Rheinland über Sätze, die ihnen hängengeblieben sind. Heute: Judith Merchant

Das, was gemeinhin als „Foodie“ bezeichnet wird, bin ich definitiv nicht. Ich koche recht schlecht, ich fotografiere mein Essen nicht, und vor allem spreche ich nicht über Essen.
Trotzdem habe ich mich in den vergangenen zwei Monaten ungewöhnlich viel mit dem Gegenstand der Currywurst beschäftigt.
Und das kam so:
Für zwei Literaturkurse, die ich regelmäßig im Bonner Raum durchführe, hatte ich verschiedene Novellen in Betracht gezogen. Meine Wahl fiel dann (wer bis hierher aufmerksam gelesen hat, wird es längst erraten haben) auf Uwe Timms „Die Entdeckung der Currywurst“.

„ FANTA! “

Es ist ein schönes Buch. Es ist phantastisch geschrieben, es ist sowohl historisch als auch mit Blick auf stilistische Selbstreferenz ausgesprochen relevant usw usw. Vor allem aber bekam ich schon bei der Vorbereitung jedesmal ungeheuren Appetit. Zweimal suchte ich die Currywurstbude am Bonner Markt auf, einmal probierte ich eine vegane Variante an einer anderen Bude.
Bei Kursbeginn fühlte ich mich gestärkt genug, um nun endlich die Novelle ins Zentrum zu rücken.
Dies gelang mir etwa zehn Minuten. Sie habe, sagte dann eine Teilnehmerin, bei der Lektüre so einen Appetit auf Currywurst bekommen, dass sie sofort welche zubereitet habe.
Das führte zu einer ganzen Anzahl von Nachfragen, die (das fasse ich zusammen) nichts mit dem Buch zu tun hatten.
Wie sie denn die Soße mache und welche Würste sie nehme - ach, mit Apfelsaft? Die Schwiegertochter einer anderen nehme Fanta.
FANTA!
Gekicher.
Andere äußerten ihr Unverständnis: Wie bitte? Soße selbst machen? Currywurst isst man doch an der Bude!
Wiiie, an welcher Bude? Wo hier in Bonn gibt es denn, bitte, gescheite Currywurst?
Ein zaghaftes Stimmchen gestand, noch nie Currywurst gegessen zu haben. Ungläubige Aufregung.
Ein zweites Stimmchen schloss sich an.
Heller Protest.
Wie ist es möglich, dass gleich zwei Frauen aus dem Bonner Raum das 70. Lebensjahr erreichen konnten, ohne in Kontakt mit einer Currywurst zu kommen? Ist das mangelndes kulinarisches Interesse? Ein Problem, das auf die süddeutsche Sozialisation der einen Dame zurückzuführen sei? Bürgerliche Arroganz gegenüber einem proletarischen Hauptgericht? Die Thesen wurden immer steiler, das Gespräch zerfaserte in viele interessante Richtungen.
Niemand wollte über Uwe Timm sprechen.

„ Das Entsetzen war unbeschreiblich. “

In der darauffolgenden Woche war ich entschlossen, die Diskussion ganz entschieden in Richtung Text zu lenken. Doch dann meldete sich eine Teilnehmerin mit der gewichtigen Mitteilung, sie habe jetzt die Doku von Fernsehkoch Björn Freitag zum Thema geguckt und dabei herausgefunden, dass das, was in Hamburg, wo unsere Novelle spielt, als Currywurst verkauft werde, in Wahrheit Bockwurst sei, also rötliche Wurst.
Das Entsetzen war unbeschreiblich.
Knapp die Fakten für alle Lesende, die weder weit gereist sind noch die Doku gesehen haben: Im Rheinland und Ruhrgebiet wird eine Bratwurst, meist aus Kalbfleisch, verwendet, in Westberlin aber ebenso wie im Großraum Freiburg eine rötliche Bockwurst, in Ostberlin hingegen Bratwurst, aber ohne Pelle, wobei die Bezeichnungen dann „Currywurst“ für Bockwurst und „Currywurst ohne Pelle“ für Bratwurst ohne Pelle lauten (kommen Sie noch mit?). Der größere Unterschied zwischen beidem ist aus meiner Sicht ganz klar, dass das eine Bock- und das andere Bratwurst ist, wogegen der Unterschied von Bratwurst mit und ohne Pelle vergleichsweise marginal ist. Möglicherweise merkt man mir meine große Aufregung und starke innere Beteiligung bei diesem Thema an. Dass ich einmal einen Satz formuliere, in dem ich „aus meiner Sicht“ Unterschiede zwischen Würsten benenne, hätte ich niemals für möglich gehalten. Um meine Emotionen zumindest halbwegs zu validieren, führte ich in beiden Kursen Umfragen per Handzeichen durch, was die empfundenen und geschmeckten Unterschiede zwischen Brat-und Bockwurst und eben auch Bratwurst mit und ohne Pelle anbelangt. Man kann sagen: Das Thema war ein wenig aus dem Ruder geraten.
Niemand wollte mehr über Uwe Timm sprechen, aber wir waren ihm dankbar. Dankbar dafür, dass erneut die Entscheidung für unser aller Mittagessen gefallen war, dankbar für die erschütternden Einblicke in regionale Esskultur und dankbar für die aufgeregte Röte, die in unsere hitzigen Wangen gestiegen war.
(Das hatten wir zuletzt so, als im Kurs 2013 Theodor Fontane... Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.)

„ Typ mit der Grillzange: „Die ist aus.“ “

Die Anzahl der durch Novellenlektüre angestoßenen Currywurstverzehre stieg weiter, aber damit ist die Sache noch nicht zu Ende.
In der darauffolgenden Woche war ich auf der Leipziger Buchmesse. Kulinarisch ist Nahrungsaufnahme auf dem Messegelände eher unerfreulich, aber da ich kein Foodie bin (siehe oben), ist mir das Wurst. Also stellte ich mich mitsamt meiner Mittagsverabredungen bei einem der Stände an. Dass es Currywurst gab, entlockte mir ein Glucksen, aber da ich oft verkünde, kein Foodie zu sein, wäre es mir unangenehm gewesen, jetzt lang und breit über Essen zu reden, zumal wir uns, wie gesagt, am aufregendsten Ort der Welt befanden: auf der Buchmesse. Ich würde also keineswegs über Currywurst referieren. Stattdessen würde ich einfach wortlos eine bestellen und so tun, als sei das etwas, was keines Kommentars bedürfe.
Doch es kam anders. Als ich an der Reihe war und im knappen busy Messe- Jargon eine Currywurst bestellte (in Bonn wäre das ein wesentlich längerer sprachlicher Akt), sagte der Typ mit der Grillzange: „Die ist aus.“
Da war eine kleine Schrecksekunde, das gestehe ich. Doch dann sah ich die Bratwurst. Mehrere. Sie waren da.
Ganz offensichtlich war Leipzig/Messe kulinarisch dem Bereich Berlin zugehörig, also jener Region, die den Gebrauch von gebratener Wurst kategorisch ausschließen, ohne, wie in Westberlin, die pellenfreie Option zu offerieren.
Das zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, dauerte Bruchteile von Sekunden. Was gut war, denn hinter mir drängelte die hungrige Buchmesse-Schlange. Die hundertfach wiederholten Aufzählungen sämtlicher denkbarer und vollzogener Currywurst-Varianten hatten meine Wahrnehmung derart geschärft, dass ich ohne Zögern rief: „Dann geben Sie mir einfach eine Bratwurst mit Currysoße!“
Der Typ starrte mich an. Fassungslosigkeit machte sich auf seinem Gesicht breit. „Echt jetzt?“, fragte er.
Ich nickte. Kopfschüttelnd legte er eine Bratwurst auf den Teller und gab Soße darüber. „Das kann man doch nicht essen!“, brummte er.
Ich öffnete den Mund, um ihn aufzuklären, dann schloß ich ihn wieder. Wie gesagt, ich rede nicht über Essen.
Schließlich bin ich kein Foodie.

Judith Merchant lebt als Autorin in Bonn. Sie veröffentlichte u.a. die Rheinkrimi-Serie sowie die Thriller „Atme!“ und „Schweig!“ (Kiepenheuer & Witsch). Zuletzt erschien „Freddy und der Redenwurm“ und weitere Kinderbücher im EMF Verlag.